Ein Gespräch mit Prof. Dr. Heiko Wrobel über die Forschung im Großhandel
Der Großhandel gehört zu den entscheidenden Wirtschaftsstufen der deutschen Volkswirtschaft. Und trotzdem wird in kaum einem Sektor so wenig geforscht wie im Großhandel. Über die Gründe der geringen Forschungsquote und notwendige Schritte: Ein Gespräch mit Prof. Dr. Heiko Wrobel, Professor für Professor für Logistik, Großhandel und Allg. BWL an der Technischen Hochschule Nürnberg.
Herr Professor Wrobel, in einem Artikel im Magazin „Technischer Handel“ bezeichnen Sie den Großhandel als ‚wirtschaftlichen Riesen‘ – aber als ‚forschungsseitigen Zwerg‘. Was hat Sie zu diesem Vergleich veranlasst?
Wenn man sich die volkswirtschaftliche Bedeutung des Großhandels anschaut, ist das Wort „Riese“ keine Übertreibung. Fast 1,7 Billionen Euro Umsatz und zwei Millionen Beschäftigte – das sind beeindruckende Zahlen. Aber in der Forschung wird der Großhandel nicht nur vielfach übersehen. Er ist hier kaum existent. Das zeigen auch die Zahlen: Gerade einmal 0,1 % des Umsatzes fließen in Forschung und Entwicklung – rechnet man Investitionen und sonstige Innovationsausgaben großzügig hinzu, kommt man auf maximal 0,3 % vom Umsatz. In Deutschlands Vorzeigebranchen wird hingegen wesentlich mehr in F+E investiert. Zum Vergleich: Maschinenbau 3,9 %, Chemie/Pharma 4,9 % und in der Elektroindustrie ganze 7,0 % vom Umsatz. Dieses Missverhältnis wollte ich sichtbar machen – und das gelingt oft besser mit einem Bild als mit bloßen Zahlen.
Und warum übersehen die Hochschulen und Forschungsinstitute den Großhandel?
Das ist eine interessante Frage. Ich vermute, dass es an dem Bias der Alltagserfahrung liegt, gegen den auch Akademikerinnen und Akademiker nicht immun sind. Wir unterschätzen strukturell, was wir nicht ganz sehen. Für viele ist Handel das, was sie in Innenstädten, in Onlineshops oder auch auf Autobahnen in Form von LKWs sehen. Dieses Bild ist aber dramatisch unterkomplex. Der Großhandel ist keine einzelne Branche, sondern eine ganze Wirtschaftsstufe, die alle unsere Schlüsselindustrien verbindet und versorgt: Baubranche, Automobilindustrie, Handwerk, Einzelhandel, Chemie, Pharma, Maschinenbau und viele andere. Die komplexen Anforderungen und Marktumstände dieser Einzelbranchen kommen im Großhandel zusammen und werden von ihm mit erfüllt.
Aber warum ist die FuE-Qote in den Unternehmen im Großhandel dann so gering? Diese müssten es doch besser wissen und langfristiger planen.
Weit mehr als 90 Prozent aller Großhandelsunternehmen sind mittelständisch. Eine Mehrheit beschäftigt sogar weniger als 50 Angestellte. Der Mittelstand hat es traditionell schwerer, wenn es um eigene Forschungskapazitäten geht. Es fehlt oft an den Ressourcen oder an Netzwerken und die operative Bindung ist sehr hoch. Viele Unternehmen kämpfen im Tagesgeschäft um Effizienz. Forschung erscheint da als „Luxus“. Ich bin aber überzeugt: genau das ist ein Trugschluss. Forschung ist kein „Nice-to-have“, sondern das Fundament der Zukunftsfähigkeit.
Warum ist die Zukunftsfähigkeit des Großhandels denn überhaupt bedroht? Er bewegt doch – zugespitzt gesagt – „nur“ Waren von A nach B, im Grunde ein zukunftssicheres Geschäft.
In diesem Irrtum liegt das Problem. Der Großhandel ist eben nicht einfach nur Lager plus Transportlogistik zum Kunden. Er ist ein intermediäres System mit enormer Steuerungsfunktion für unsere Wirtschaft. Er sorgt für Markttransparenz, sortiert, bündelt, übernimmt Qualitätssicherung, Zahlungsrisiken, technisches Know-how, Service und Beratung. Das alles passiert oft im Hintergrund – aber es ist hochkomplex.
Diese Komplexität gerät unter Druck. Datengetriebene Geschäftsmodelle sind auf dem Vormarsch. Wenn sich der Großhandel, der enorm viele Daten hält, auf die Rolle des reinen Transportunternehmens reduzieren lässt, verliert er seine Wertschöpfungstiefe. Da wir die Funktion des Großhandels aber nicht ersetzen könnten, droht unserer gesamten Volkswirtschaft ein Schaden, wenn wir die zukünftigen Anforderungen der europäischen und weltweiten Märkte nicht bedienen oder sie mitgestalten können.
Sie sagen nun, dass Forschung dabei helfen kann. Forschung ist aber ein komplexes System, in dem man nicht einfach einen Schalter umlegt. Was müsste denn zuerst passieren?
Zunächst brauchen wir Sichtbarkeit und ein Problembewusstsein. Viele wissen gar nicht, was Großhandel heute eigentlich leistet, auch große Teile der Fachwissenschaften und der Politik nicht. Dann braucht es Strukturen – Orte, wo Forschung und Innovation für den Großhandel stattfinden kann. Mit der Forschungsvereinigung haben wir so eine Struktur geschaffen. Sie soll vernetzen, initiieren, koordinieren. Das kann aber nur der Anfang sein. Mittelfristig brauchtes einfach deutlich mehr finanzielle Kapazitäten aus dem öffentlichen und privaten Forschungssektor, der den wissenschaftlichen Nachwuchs und die etablierte Wissenschaft zu mehr Forschung im Großhandel anregt. Ohne Mittel geht es einfach nicht.
Stichwort ForveG: Was war Ihre persönliche Motivation, die Gründung der Forschungsvereinigung Großhandel mit voranzutreiben?
Ehrlich gesagt: Eine Mischung aus Frust und Überzeugung. Frust, weil ich gesehen habe, wie wenig Aufmerksamkeit der Großhandel in der Forschung und Forschungspolitik bekommt. Ich bin aber überzeugt davon, dass der Großhandel ein Schlüsselbereich unserer Wirtschaft ist, der entscheidend dazu beitragen kann, die deutsche Wirtschaft zu modernisieren und vor allem das große Feld der „Data Economy“ für Deutschland und Europa mitzugestalten. Wertschöpfung verschiebt sich zunehmend in den digitalen Bereich. Und kaum eine Wertschöpfungsstufe verfügt über mehr Daten als der Großhandel.
Ein pragmatischer Zugang also. Und dennoch: Wie ambitioniert darf man sein?
Sehr ambitioniert! Ich habe in meinem Artikel ein Ziel formuliert: 2,1 % des Rohertrags für Forschung und Entwicklung. Das wären rund 6,9 Milliarden Euro jährlich – ein gewaltiger Sprung von den aktuellen 1,7 Milliarden. Aber wir brauchen dieses Ziel. Nur wer weiß, wohin er will, kann den Weg dorthin planen. Und ich bin davon überzeugt: wenn wir konsequent vernetzen, fördern und begleiten, ist das erreichbar. Das Entscheidende ist: Wir müssen anfangen.
Nehmen wir an, Ihr Appell findet gehör, wo wären wir dann in 5 Jahren?
Ich bin kein großer Freund von Konjunktiven. Wichtig ist, dass die Anforderungen und die Probleme des Großhandels im Innovationsmanagement nicht länger übersehen werden. Wir brauchen mehr Forschung und mehr Problembewusstsein. Was wir aber auch brauchen, sind mehr Unternehmen, die erkennen, dass sie den Innovationsstandort Deutschland selbst gestalten können, besonders als Mittelständler. Und ich möchte, dass diese Unternehmen stolz darauf sind.
(11. Juni 2025)